von angesicht zu angesicht

von eva eusterhus
die welt, 25. april 2009

auf dem tisch liegt ein packen herausgerissener magazinseiten. darauf zu sehen sind fotos berühmter und weniger berühmter menschen. manche schauen in die kamera, blicken ins leere oder beobachten etwas. auf den ersten blick könnte man vermuten, annette meincke-nagy habe diese fotos aufgehoben, als inspirationshilfe für den nächsten friseurbesuch oder einkaufsbummel. aber wer so denkt, kennt die künstlerin nicht. »ich lese gerne in gesichtern.« ich frage mich: »was für ein mensch steckt dahinter?«

eins ist also schnell klar: die frau mit den dunklen, langen haaren hat ihren ganz eigenen kopf. um nicht zu sagen köpfe, denn die sind das spezialgebiet der hamburgerin. aus einem eigen zuammengestellten zellulose-quarzsand-leim-gemisch fertigt sie überdimensional große köpfe und beinah lebensgroße büsten. ihre arbeiten strahlen etwas geheimnisvolles aus, etwas, das den betrachter in den bann zieht- und gleichzeitig durch ihn hindurchschaut.

die liste jener, die schon ein oder gleich eine ganze gruppe ihrer köpfe ihr eigen nennen dürfen, ist lang. das die mutter einer neunjährigen tochter von und mit ihrer kunst leben kann, empfindet sie als »segen« – »in mentaler und in finanzieller hinsicht«, fügt sie schmunzelnd hinzu. wenn sie ihre werke nicht gerade in renommierten galerien deutschlandweit ausstellt, weilen sie in ihrem winterhuder atelier, das in einem teil ihrer altbauwohnung untergebracht ist. in abgedeckten plastikschüsseln klebt der graue matsch- ein zäher papierbrei, der durch das aufkochen von papierschnipseln und der beimischung von leim und quarz entsteht - den sie mit den fingern auf drahtgerüste aufträgt. über wochen wachsen ihre plastiken schicht für schicht heran. diese zeitaufwändige technik spiegelt sich in den werken wider: annette meincke-nagys köpfe ordnen die dinge und zwingen den betrachter anzuhalten statt achtlos vorüberzueilen. ihr faible für köpfe hat geschichte:

1965 in bonn geboren, aufgewachsen in dänemark, frankreich und holland, machte die diplomatentochter nach einem aufenthalt in budapest an der fachhochschule in hamburg 1993 ihr diplom in gestaltung. 1999 nahm sie eine lehrauftrag an der hochschule für angewandte wissenschaften an, den sie letztes jahr beendete – auch, um sich ihren köpfen, büsten und badenden – eine motivreihe, die sie in budapester thermalbädern studiert hatte, in der gänze zu widmen.

statt um glatte schönheiten geht es der künstelerin um antlitze mit ausdruck. »gesichter haben mich immer schon interessiert. man sagt ja auch, der charakter spiegelt sich darin wider.« auf ihre motive trifft die hamburgerin im alltag: die köpfe von freunden, nachbarn und unbekannten wurden schon in papier verewigt. aber sie zitiert auch ikonen aus berühmten gemälden die dem betrachter irgendwie bekannt vorkommen. zum beispiel die zur seite schauende dame aus dem bild »der falschspieler« von george de la tour, »das mädchen mit der perle« von jan vermeer oder das arnolfini hochzeitspaar von jan van eyck. es habe eine weile gedauert, bis sie sich ganz und gar für das plastische arbeiten entschieden habe, erzählt sie. und lacht, als sie sich erinnert, dass sie viele jahre glaubte, man müsse sich bei einer berufung ein stück weit quälen, sich abmühen – nur dann gewinne kunst an wert. eines tages sagte ihre professorin almut heise beim betrachten ihrer mühsam zu papier gebrachten zeichnungen zu ihr: »warum verbiegst du dich, um einer sache gerecht zu werden, die dir gar nicht entspricht?« »also stopfte ich die diplomarbeit, an der ich zwei jahre gezeichnet hatte in den mülleimer«, erinnert sie sich. fortan verbog sie sich nicht mehr und machte die gesichter, die ihr nicht mehr aus dem kopf gingen, aus papier. auch wenn sich das verrückt anhöre: »statt sich zu verbiegen sollte man sich auf das konzentrieren, was aus einem herausfließt, finden sie nicht auch?«; fragt annette meincke-nagy. absolut. gott sei dank hat diese frau ihren eigenen kopf.

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