interview

bloggerin fou de pheline interviewt annette meincke-nagy
2018

betritt man die großzügige altbauwohnung von bildhauerin annette meincke-nagy im hamburger stadtteil winterhude, ist eines sofort klar: hier fühlt man sich nie allein. überall stehen ihre werke in form von großen und kleinen büsten auf sockeln oder sie sind subtil ins interieur integriert. dazu gesellen sich sitzende oder stehende figuren aus ihrem repertoire. manche skulpturen wirken mehr, andere weniger anwesend – einige haben die augen geschlossen. sie allesamt beseelen die räume der künstlerin. besonders das charmante atelier, das direkt an den wohnbereich angrenzt. der übergang ist dabei so fließend, dass die magie der kreativität in alle zimmer überschwappt.

pheline: annette, ich weiß gar nicht, wo meine katzenaugen ihren blick zuerst hinwerfen sollen. es gibt hier so viel zu entdecken. bist du selbst auch eine begeisterte beobachterin deiner besonderen mitbewohner, oder wie nimmst du sie wahr?

annette: für mich sind sie wie ein eigenes kleines volk. ich liebe es, sie um mich zu haben, beobachte sie aber nicht ständig. mein konzentrierter und prüfender blick fällt mehr auf die skulpturen, an denen ich gerade arbeite.

pheline: bei genauerer betrachtung der figur-fassade – erneute faszination! es ist nicht offensichtlich, welches material du verwendest. mittlerweile weiß ich, es handelt sich um ein zellulose-leim-gemisch, das durch die beimengung von farbpigmenten und feinem quarzsand deinen werken ihre einzigartige textur und farbigkeit verleiht. wie bist du auf diesen material-mix gekommen?

annette: als ich während meines studiums den drang verspürte, plastisch zu arbeiten, wollte ich sofort beginnen – und mir fiel nichts anderes als papiermaché ein. es kostete nichts und ich hatte alle zutaten dafür im haus. über die jahre habe ich im arbeitsprozess meine technik optimiert. ich hatte das bedürfnis nach einer feineren, offenporigen oberfläche, in die farbe wie beim aquarellpapier einsickern kann. durch diese entstandene durchlässigkeit versuche ich, meinen figuren etwas seelenvolles zu verleihen.

pheline: was begeistert dich an der arbeit mit der papiermasse?

annette: es ist eine stille arbeit, die geduld und langsamkeit erfordert. das entspricht mir. ich arbeite mich schicht für schicht vor. manchmal habe ich das gefühl, es ist wie ein abbild meines lebens. ich liebe diese stille und den zustand, der dadurch entsteht.

pheline: bitte beschreibe den arbeitsprozess für eine figur und wie lange dauert er in der regel?

annette: ich beginne mit einem drahtgerüst, das die grobe richtung vorgibt. dieses beklebe ich dann in vielen schichten mit papier und nähere mich langsam der form. zwischendurch bedarf es immer wieder pausen zum trocknen. mit vielen kleinen papierschnipseln kann ich immer feiner werden und fange dann an, eine selbstgekochte und pürierte papiermasse mit quarzsand aufzutragen. zum schluss bemale ich die figur mit selbstangerührten pigmentfarben in feinen, lasierenden schichten. ich arbeite immer an mehreren skulpturen gleichzeitig, deshalb ist es schwer zu sagen, wie lange ich für eine brauche. aber ich würde sagen pro neuem mitbewohner ungefähr 3–4 wochen... (lacht)

pheline: was ist bei der entstehung die größte schwierigkeit?

annette: die proportionen sind stets eine herausforderung. ich fange ja quasi mit einem strichmännchen aus draht an. in diesem dünnen zustand wirken die arme und beine zum beispiel ewig lang. es ist immer wieder schwierig, mir das richtige maß zu beginn des schaffungsprozesses vorzustellen. ehrlich gesagt denke ich jedes mal, wenn ich beginne, dass ich das im lebtag nicht hinbekomme.

pheline: weißt du von anfang an, welchen ausdruck eine büste am ende haben soll oder ergibt sich das während des modellierens? machst du vorher skizzen?

annette: nein, aber ich habe immer eine anfangsidee in form von einem gesicht, ausdruck oder einer haltung – oftmals von figuren aus gemälden der kunstgeschichte, die ich liebe und mit denen ich mich beschäftigen und verbinden möchte. es kann auch mal ein kleidungsstück sein, in dem ein mensch steckt, das mich inspiriert. im laufe des arbeitsprozesses löse ich mich häufig von dem vorhaben und schaue, wer mir da entgegenkommt.

pheline: gibt es tage, an denen dir so gar nichts gelingen will und muse samt motivation zusammen munter pausieren? falls ja, was tust du dagegen bzw. wie reagierst du?

annette: oh ja, die gibt es. wenn ich auf die muse und motivation immer warten würde, bevor ich beginne, dann wäre noch nicht so richtig viel passiert. ich habe für mich festgestellt, dass die inspiration beim machen kommt. aber auch ein lauf durch den park kann meine motivation steigern. deshalb fange ich mit oder ohne lust an zu arbeiten. wenn ich erst einmal begonnen habe, kommt diese ziemlich schnell. dazu gehört disziplin und durchhaltevermögen. ist die unlust allerdings zu groß, wurschtele ich stundenlang in meiner wohnung herum oder gehe in die sauna.

pheline: wie würdest du deinen stil in bezug auf die skulpturen bezeichnen?

annette: irgendjemand sprach mal von abstraktem realismus. dieser ausdruck gefällt mir gut. die figuren sind einerseits realistisch, andererseits abstrahiert.

pheline: du bist 1965 in bonn geboren und warst ein richtiges eu-kind, das in dänemark, frankreich und holland aufgewachsen ist. wann und wodurch wurde dir klar, dass du künstlerin werden möchtest?

annette: schon als kleines mädchen wurde von mir alles bemalt und beklebt, was nicht niet- und nagelfest war. zusammen mit meinem bruder habe ich in den großen ferien ganze miniaturwelten aus papier und pappe gebaut. rückblickend wusste ich also schon als kleines mädchen, was mich glücklich macht. damals hätte ich es aber als anmaßend empfunden zu behaupten, ich könnte eine künstlerin sein. später war ich durch die vielen umzüge in unterschiedliche länder ein bisschen lost. ein freund hat mir daraufhin ein praktikum in einer webeagentur verschafft. dort stellte ich fest, dass es auch berufe gibt, in denen man „basteln“ darf. das gefiel mir so gut, dass ich mich erkundigte, was man denn studieren muss, um so einen beruf ausüben zu dürfen, wenn man groß ist... aus diesem grund habe ich mich an der fachhochschule für gestaltung in hamburg beworben. mit mitte/ende 20 fiel dann endlich die bewusste entscheidung, dass ich künstlerin werden wollte.

pheline: wie lautet deine definition von kunst?

annette: wenn jemand es schafft, mit seinem können eine idee oder ein gefühl zu transportieren, empfinde ich das als kunst. ein beispiel: wenn ich ein gemälde von vermeer betrachte, eröffnen mir seine pinselstriche neue welten. durch sein können ist es ihm gelungen, sich dem – ich nenne es mal universum – gegenüber zu öffnen und etwas durchfließen zu lassen, was beim betrachter ankommt und ihn berührt.

pheline: du hast in budapest, hamburg und lausanne studiert. welches war die wertvollste erkenntnis in dieser zeit?

annette: durch das leben in verschiedenen ländern, wo ich nicht immer gleich der sprache mächtig war oder auch gar nichts verstand, wie in ungarn, war ich oft sehr auf mich gestellt. dadurch ist mir klar geworden, dass ich selbst der einzige mensch bin, der mich ein leben lang begleitet. und wie wichtig es ist, sich seinem eigenen herzen gegenüber zu öffnen und der inneren stimme zu lauschen. wir haben alles in uns – das ganze universum. es ist nur oft so schwer, es zu hören und zu verstehen...

pheline: wer oder was inspiriert dich?

annette: die liste wäre zu lang, wenn ich mit namen beginnen würde. das leben, die kunst, die natur, menschen und letztendlich auch ich selbst.

pheline: wie persönlich sind deine arbeiten?

annette: sehr.

pheline: was möchtest du mit deinen werken beim betrachter wecken?

annette: zunächst einmal möchte ich gar nichts auslösen. ich liebe es, schöpferisch tätig zu sein. es gibt nichts schöneres, als in die eigene arbeit versunken zu sein, sich selbst zu spüren und am ende ein fertiges werk vor sich zu haben, das quasi aus dem nichts entstanden ist – mit den eigenen händen, papier, kleister und farbe. ich freue mich aber umso mehr, wenn menschen zu mir kommen und erzählen, wie sie mit meiner kunst leben, wie sie davon berührt sind und was sie in ihnen auslöst. ich höre oft, dass meine arbeiten eine ruhe ausstrahlen. das freut mich sehr, denn ich glaube, dass uns diese stille hilft, um mit uns selbst und dem jetzt in kontakt zu treten.

pheline: viele künstler plagen selbstzweifel. wie kritisch bist du mit dir selbst und deinen skulpturen gegenüber?

annette: der innere kritiker ist eine der größten herausforderungen überhaupt. nicht nur in der kunst. wenn ich es genau betrachte, bin ich jeden tag mehr oder weniger damit beschäftigt, mir die erlaubnis zu geben, meine arbeit zu machen und zu behaupten, ich sei künstlerin. es gibt tage, da blicke ich wohlwollend auf meine skulpturen und es gibt tage, an denen ich nur sehe, was alles nicht gut ist. beides sind antriebe weiterzumachen.

pheline: wie schwer fällt es dir, sich von einem „wg-partner“ zu verabschieden?

annette: ich liebe es, meine kunst zu verkaufen. es ist so schön, wenn jemand geld ausgibt, um sich mit einer arbeit von mir zu umgeben. allerdings gibt es immer wieder skulpturen, an denen ich sehr hänge und wo ich es auch schon bereut habe, dass sie schnell verkauft wurden. besonders schwer fällt es mir, wenn ich quasi gerade den letzten pinselstrich gemacht habe und die arbeit direkt in eine ausstellung geht und sofort verkauft wird. mir ist lieber, ich habe etwas zeit, um einen abschließenden blick darauf werfen zu können.

pheline: durch die sozialen kanäle hat sich der kunstmarkt enorm verändert. es tauchen zum beispiel immer mehr virtuelle galerien auf. wie denkst du über diese entwicklung?

annette: ich finde es unglaublich spannend, wie die welt dadurch schrumpft und was man auf diese weise an künstlern und galerien kennenlernt. ich bin aber nach wie vor für die klassische galerie, in der man vor dem kunstwerk steht und es direkt auf einen wirken kann. ich finde, fotos können das schwer transportieren. bei dreidimensionalen arbeiten empfinde ich es als noch problematischer. social-media-kanäle sehe ich eher als eine zusätzliche möglichkeit, um sich einer breiteren öffentlichkeit zu präsentieren.

pheline: gibt es besondere anekdoten im zusammenhang mit bisher geschaffenen werken? eventuell bei der entstehung oder vielleicht während einer ausstellung?

annette: oh ja! ich durfte viele berührende geschichten erleben oder anhören. zum beispiel den anruf einer frau, die lange krank war. am telefon schilderte sie mir, wie sehr ihr meine skulptur in dieser schweren zeit kraft gegeben hat. das hat mich tief berührt und gefreut. oder diese geschichte: eine andere frau lief mehrere tage vor ausstellungsbeginn immer wieder an der galerie vorbei und verliebte sich durchs fenster in eine meiner arbeiten. bei der vernissage musste sie feststellen, dass genau jene figur bereits verkauft war und brach in tränen aus. am ende stellte sich heraus, dass ihr ehemann die skulptur für sie als überraschung gekauft hatte und die freude war überwältigend.

pheline: wie viele – für mich sind es papier-poesie-werke – sind bisher entstanden? annette: vielen dank für „papier-poesie-werke“! das kann ich schwer abschätzen. hunderte....

pheline: wie sah deine erste arbeit aus? annette: mein erstes werk waren vier schwebende schwimmer/taucher, die von der decke hingen.

pheline: gibt es einen ort, an dem du unbedingt einmal ausstellen möchtest? annette: in meinem lieblingsmuseum louisiana nördlich von kopenhagen oder im guggenheim new york – das wäre ein traum!

pheline: was wünschst du dir für die zukunft – dich und deine werke betreffend? annette: dass ich immer lust und kraft habe, weiterzumachen und dass ich mit wundervollen galerien und galeristen zusammenarbeiten darf und natürlich gut verkaufe.

pheline: was ist der schönste moment für dich bei der entstehung deiner skulpturen? annette: wenn ich raum und zeit vergesse.

pheline: auf was könntest du liebend gern verzichten?

annette: auf büroarbeit und vermarktung. zugegebenermaßen schiele ich manchmal etwas neidisch auf künstler, deren frauen sich um alles drum herum kümmern – inklusive haushalt und kinder. sie können sich somit ganz und gar auf ihre arbeit fokussieren. leider ist es ja meistens so herum. andererseits habe ich gerne den überblick über meine bürokratischen angelegenheiten und wenn ich erst einmal mit dem sortieren und abheften begonnen habe, macht es auch spaß. außerdem ist es das größte geschenk, zeit mit meiner tochter zu verbringen und dass ich sie großziehen durfte. ich empfinde aber den wechsel von innerlichkeit und zurückgezogenheit zum außenauftritt bei vernissagen etc. immer wieder als schwierig. in beide richtungen. wenn ich rausgehe, würde ich am liebsten zuhause bleiben. andererseits macht es dann im außen wieder so viel spaß, unter menschen zu sein, dass ich nicht mehr weiß, wie ich in meine ruhe zum arbeiten zurückfinden soll. ich glaube, dieser spagat wird mich ein leben lang begleiten.

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