interfaces innerer verfassungen
belinda grace gardner
2020
zwischen den zeiten und orten: annette meincke-nagys seelen-bildnisse
mit simplen stecknadeln angepinnt, versammeln sich auf einer wand im hamburger atelier von annette meincke-nagy porträts aus verschiedenen epochen und kulturen. darunter befinden sich madonnenantlitze und berühmte bildnisse wie die büste der nofretete, leonardo da vincis dame mit dem hermelin oder jan vermeers mädchen mit dem perlenohrring. aber auch die einer zeitschrift entnommene fotografische abbildung eines unbekannten mädchens aus pakistan mit zugleich wachem und in sich gekehrten blick ist dabei. die vielen verschiedenen gesichter dienen der künstlerin als wahlverwandte inspirationsquellen für ihre skulpturalen figuren, die seit ende der 1990er-jahre entstehen: köpfe und büsten, sitzende, stehende, badende, meist, aber nicht immer, weiblich, da sie aus meincke-nagys eigener identifikation erwachsen und sich auch daran orientieren. immer steht das gesicht, das zugleich eine berührende blöße und autarke resistenz ausstrahlt, im mittelpunkt des bildnerischen geschehens. kopfbedeckungen wie tücher, mützen, hauben oder kappen unterstreichen noch den fokus auf die gesichtszüge der figuren. ob mit offenen oder geschlossenen augen dargestellt, scheint ihr blick nach innen gerichtet zu sein. von ihrer anmutung und aura her ähneln sie sich, ohne eine spezifische person oder gar kunsthistorische gestalt abzubilden. meincke-nagys skulpturen sind gleichermaßen wiedererkennbar und abstrakt. es geht der künstlerin nicht darum, individuen zu repräsentieren, sondern dem wesen des menschseins gestalt zu geben: ihre portraits sind seelenbildnisse, die sich über das interface des fazialen ausdrucks artikulieren.
den figuren ist eine konzentration, tranquilität und anmut eigen, die sich dem genauen zugriff entzieht. vollends in sich ruhend, erwecken sie den eindruck, in einer parallelen, geistigen wirklichkeit unterwegs zu sein: „das gesicht erscheint als rätsel und als risiko. als würde es mit dem ewigen und dem heiligen paktieren. […] einerseits eine präsenz, andererseits sein gefühltes inkognito. ein besitz, aber mit der eigenschaft der unberührbarkeit. als wäre man von allen seiten einsehbar, jedoch nur hinter verschlossenen türen.“(1) aus dem paradox zwischen höchster zartheit und stärke, radikaler offenheit und verschlossenheit entsteht die filigrane spannung von meincke-nagys wesen, die der betrachterin das gefühl geben, in einem unbemerkten, privaten moment auf sie zu schauen, wenn sie gedankenverloren ihren eigenen inneren pfaden folgen – als wäre man vorübergehend in den traum einer anderen person geraten, um beim nächsten hinsehen wieder bei sich selbst zu landen. der rapport, der über die äußere gestaltung der figuren zu den betrachtenden entsteht, führt in den ausgedehnten raum emotionaler schwebezustände. das geheimnis, das ersteren innewohnt, ist letzteren ebenfalls eigen und wird von diesen im zuge der rezeptionsvorgangs miterzeugt.
die ursprünge der künstlerin, die in hamburg bei almut heise und friedrich einhoff studierte, liegen in der malerei. allerdings war sie von anfang weniger an der narrativen rahmung der figur, sondern an deren befreiung aus temporalen, örtlichen und inhaltlichen festlegungen interessiert. in gewisser weise sind ihre skulpturen, die als kollektive, überpersönliche bildnisse angelegt sind, konsequente weiterentwicklungen dieses ansatzes, die figur aus erzählerischen kontexten herauszulösen und als präsenz im realraum freizustellen. technisch gesehen sind ihre skulpturen eine kreuzung aus plastischer und malerischer arbeit. sie entstehen in einem vielstufigen, mehrwöchigen prozess, beginnend mit einem drahtgerüst, auf das papierstreifen aufgebracht werden. auf dieser basis entwickelt meincke-nagy ihre gestalten aus mehreren gespachtelten schichten einer papier-kleister-quarzsand-mischung. im letzten schritt bemalt sie die figur mit pigmenten und ölfarbe. das langwierige verfahren, aus denen sie erwachsen, ist den skulpturen eingeschrieben: zwar sind sie einerseits aus der zeit gesprungen, insofern sie ebenso wenig wie etwa stefan balkenhols hölzerne jedermann- und jederfrau-figuren einer bestimmten epoche oder gesellschaftlichen rahmung zugehören. dies zeigt sich auch in ihrer intertemporalen ausstattung mit generischer kleidung in verhalten-pudrigen bis sanft leuchtenden farben und schlichten frisuren, die in ihrer reduktion ebenso gut auf mittelalter oder renaissance wie auf die gegenwart verweisen könnten. andererseits sind die skulpturen der künstlerin als ergebnisse langsamer, konzentrierter arbeitsvorgänge selbst wie zeitspeicher, denen die meditative stille ihrer entstehung inhärent ist.
„jedes porträt“, so dirk luckow anlässlich einer ausstellung über abstrakte strategien in der bildniskunst, „sucht den menschen in seiner offenheit und vieldeutigkeit zu erfassen.“(2) das gilt auch für meincke-nagy, wobei sie angetreten ist, grundverfassungen und -zustände des menschseins als solches ins bild zu setzen. im zentrum ihrer ästhetischen untersuchungen steht die frage nach unserer physischen präsenz in der realität – also in welcher form wir als körper und in unseren körpern – hier auf der welt in erscheinung treten. aus sicht der künstlerin leben wir in gleicher entfernung zum makrokosmos des universums und zum mikrokosmos unserer körper, der sich hinter der hautoberfläche eröffnet: einem „universum im inneren, in dem es ebenso viel zu entdecken gibt wie im raum der sterne“(3), der sich um uns herum in endloser weite ausdehnt. dabei zielt ihre expedition in den kosmos des körpers nicht auf die erschließung der biochemischen vorgänge, die darin aktiv sind und unser dasein sichern. sondern vielmehr auf eine vertiefung in die feinstoffliche, unsichtbare und ungreifbare sphäre der seele und einer erkundung, auf welche weise sich deren regungen im ausdruck des gesichts und der körperhaltung abzeichnen. annette meincke-nagy ist den subtilen physiognomischen manifestationen menschlicher innenwelten weiterhin auf der spur. in ihren bildnissen holt sie deren verborgene energien ans licht. und gibt diesen auf der kippe zwischen offenbarung und bewahrung ihrer rätsel gestalt.
belinda grace gardner
(1) gisela von wysocki: fremde bühnen. mitteilungen über das menschliche gesicht, hamburg 1995, s. 14. (2) dirk luckow, mensch und bildnis, eine differenz. vorwort, in: porträt ohne antlitz. abstrakte strategien in der bildniskunst, ausst.-kat. (kunsthalle zu kiel: 2004), hrsg. v. dems. und petra gordüren, kiel 2004, s. 6. (3) annette meincke-nagy in einem gespräch mit der autorin in ihrem hamburger atelier am 5. oktober 2020.