gips bronze kunst

katalogtext von dr. ute bopp-schumacher
haus beda, bitburg, 2019

ende der 1980er jahre entdeckte annette meincke-nagy papiermaché als für ihr plastisches schaffen geeignetes material. ihre charakteristische feinkörnige, helle oberfläche erhalten ihre figuren durch die beimischung von feinem quarzsand und farbpigmenten in den aufgekochten papierbrei (cellulose). letzterer wird im flüssigen zustand mit kleinen spachteln auf ein drahtgestell aufgetragen und im weiteren verlauf mit den nassen händen geformt. die werke entstehen langsam. schichtweise werden die figuren aufgebaut. nach der trocknung bemalt die künstlerin die werke. während des prozesses erschafft die künstlerin schritt für schritt eine persönlichkeiten, die in deren physiognomie zum ausdruck kommt.

annette meincke-nagy berichtet in 2015 in einem filmportrait und im katalog "stille" (2017), dass sie die menschen liebt und seit jeher gerne gesichter betrachtet. der reiche bilderfundus in ihrem kopf ist also der ausgangspunkt für die späteren werke. die inspiration kommt von innen: ein interessantes gesicht, eine bestimmte haltung, ein besondere ausstrahlung animieren die künstlerin, die ohne entwurfszeichnungen arbeitet, den geist eines vor ihrem inneren auge stehenden modells einzufangen. "wenn ich glück habe, gibt es momente der vollkommenen stille, in denen ich das gefühl habe, mit der figur, der umgebenden welt eins zu werden / ... / ich forme die skulptur, und gleichzeitig kommt sie mir entgegen. in diesem moment löse ich mich von dem ausgangsmodell und bin gespannt, wer mir da begegnet." am ende verselbständigt sich jede figur. dann obliegt es den betrachtern, den seelen der dargestellten auf die spur zu kommen.

im umfangreichen papiermaché-oeuvre der künstlerin gibt es eine reihe von werkgruppen: die persönlichen auftragsportraits. die großen köpfe, weiblich mit sichtbarem haar oder haube. kleine büste von frauen und männer, die teilweise auch in bronze ausgeführt werden. die großen weiblichen büsten, ebenfalls gerne mit kappen, kopftuch oder hauben und mit bis zur brust reichenden oberkörpern. eine untergruppe hiervon sind die meisterwerken der kunstgeschichte nachgebildeten portraits: wie zum beispiel das plastische doppelportrait des von einem unbekannten maler der schule von fontainebleau im louvre befindlichen werks gabrielle d' estrèes und die duchesse de villars, um 1594. auf ähnliche weise zitiert annette meincke nagy in ihren großen büsten auch bildnisse anderer künstler wie petrus christus, raffael, ingres. diese tituliert sie meist als hommage an .... .

seit 2008 kreiert annette meincke nagy darüber hinaus sitzende weibliche und männliche ganzfiguren: die frauen meist zurückhaltend elegant gekleidet, oft mit lang anmutenden, überschlagenen beinen. 2009 entstehen die ersten stehenden - gut gekleidete frauen und männer. letztere gerne im anzug ohne krawatte oder in hemd und hose in italienischer länge; die frauen im taillierten kostüm oder kleid: allesamt eher stadtmenschen. da aussehen und kleidung sämtlicher werke von annette meincke-nagy eine überzeitlichkeit eigen ist, könnten die dargestellten aus der heutigen zeit sein. oder aus den 1950er und 1960er jahren.

badende waren die ersten pappmaché-figuren der künstlerin. sie entstanden seit ende der 1980er jahre. die inspiration hierzu kam der künstlerin in budapest während ihres einjährigen studiums an der dortigen hochschule für künste. auf jeden fall inspiriert von der badekultur in den dortigen, feudalen thermalbädern aus der zeit der k. und k. monarchie.

eine ausnahmefigur im bisherigen oeuvre von annette meincke-nagy ist die selbstbewusst auftretende "portugiesische putzfrau" (2015). mit 85 zentimeter höhe überragt dieses bis zur körpermitte reichende plastische bildnis sämtliche sonstigen büsten und köpfe der künstlerin. die portugiesin schaut ihren betrachtern in die augen, trägt einen kurzen, wellenförmigen pagenschnitt, schürze, blaue gummihandschuhe und gestikuliert mit erhobenem zeigefinger.

annette meincke nagys figuren ziehen aufgrund ihrer attraktivität die blicke der betrachter an. die künstlerin strebt danach, einen "ruhigen allgemeingültigen ausdruck herzustellen, und die schönheit der menschlichen physiognomie" zum ausdruck zu bringen. der anspruch nach allgemeingültigkeit hat zur folge, dass ihre werke eine geheimnisvolle aura umgibt, die mit einer gewissen unnahbarkeit einhergeht. dieses empfingen wird noch dadurch unterstützt, dass die portraitierten an den betrachtern vorbei, durch sie hindurch, zur seite, nach unten, in die ferne oder nach innen schauen. kurzum: der blick in die seele der frauen- und männerportraits bleibt verwehrt. und erhält unsere neugierde an den eher scheuen, introvertierten persönlichkeiten.

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