die fabelhafte welt der annette meincke-nagy

von marko schacher 2006
galerie schlichtenmaier, stuttgart

mindestens ebenso aufregend und interessant wie sich den plastischen arbeiten von annette meincke-nagy direkt zu nähern, ist es, andere betrachter bei deren annäherung zu beobachten. es scheint so, als trage jede skulptur eine gewisse dramaturgie der beschäftigung mit ihr in sich. ein erstes aha-erlebnis hat der betrachter, sobald er die materialität der skulpturen – durch eine intensive optische oder auch haptische annäherung oder den blick auf die dazugehörigen werkangaben – als pappmaché-arbeiten entlarvt. ausgerechnet pappmaché! ein material, das uns an die unförmigen kasperl-figurenköpfe denken lässt, die wir in unserer kindheit zusammengemanscht haben. kaum zu glauben, dass es annette meincke-nagy möglich ist, aus alten zeitungen, leim, draht und ölfarbe ein solch großes maß an poesie herauszuholen!

durch die lektüre alter rezeptbücher und eigene experimente hat sie eine methode gefunden, den zähen papierbrei, der durch das aufkochen von papierschnitzeln und die zumischung von leim entsteht, mit kleinen spachteln auf ein drahtgestell aufzutragen und der papiermasse durch die beimengung von farbpigmenten und feinem quarzsand eine geradezu samtige oberfläche zu verleihen.

von angesicht zu angesicht strahlen ihre köpfe und büsten etwas verzaubertes verträumtes, ja introvertiertes aus. das liegt vor allem an den augen, an dem blick der figuren. als vermeintlichem spiegel der seele schenkt die künstlerin ihnen besonders viel aufmerksamkeit. während man vor leonardo da vincis »mona lisa« ständig das gefühl hat, beobachtet und angelächelt zu werden, egal in welchem winkel man sich vor deren antlitz befindet, hat man vor annette meincke-nagys skulpturen auch im direkten blickfeld der figuren immer das gefühl, als würden diese durch einen hindurch schauen. der blick der augen geht stets zur seite oder leicht nach unten und steht so im kontrast zur statuarisch aufragenden vertikalität der figur. die überdimensionierten köpfe und annähernd lebensgroßen büsten umgibt eine geheimnisvolle aura, einen fast religiösen »noli me tangere«-bannkreis, der auch mit dem wissen um deren profane materielle zusammensetzung von bestand bleibt.

ein zweites déjà-vu-erlebnis hat der betrachter, wenn er vor bestimmten köpfen und büsten erkennt, dass die künstlerin mit diesen bekannte protagonistinnen der europäischen kunstgeschichte der letzten 500 jahre von der zweidimensionalität der malerei in die dreidimensionalität der plastik überträgt. die bildnisse appellieren an das kollektive gedächtnis der museumsgänger und katalogbesitzer. manchen betrachtern sieht man das »irgendwo hab ich dich schon gesehen« regelrecht ins gesicht geschrieben. ja, es scheint so, als würden die figuren von annette meincke-nagy beim betrachter einen knopf drücken und dessen hirn, das möglicherweise bereits seit langem an eine passive rezeption gewöhnt ist und auf »stand by« steht, einschalten. ein passives konsumieren der büsten und köpfe ist unmöglich. der betrachter kramt aktiv in seinem bildgedächtnis (und zu hause möglicherweise im bücherschrank oder im internet), um die vermeintliche vorlage mit der entstandenen skulptur zu vergleichen. oft geben die werktitel einen hinweis auf den urheber der inspirationsvorlage, manchmal auch auf den werktitel der zugrunde liegenden malerei. und siehe da: meincke-nagys skulpturen sind viel mehr als plastische umsetzungen der gemalten portraits. die künstlerin löst ihre protagonistinnen aus der bilderzählung und aus dem zeitlichen zusammenhang mit der damaligen kunstepoche, befreit sie von symbolträchtigen schmuck-und kleidungsstücken, vereinfacht ihre accessoires und »entzeitlicht« so ihre erscheinung. die entstandenen figuren strahlen eine zeitlosigkeit und allgemeingültigkeit aus. die zu icons, verkürzten bildzeichen der kunstgeschichte gewordenen figuren werden aus ihrer musealen erstarrung und von ihrer funktion als werbeträger des dazugehörigen museums befreit und bekommen ein neues leben als selbständige, selbstbewusste gegenüber im hier und jetzt geschenkt. indem annette meincke-nagy dreidimensionale papiermaché-portraits ihrer freundinnen gleichberechtigt neben die ikonen der kunstgeschichte stellt, macht sie deutlich, dass ihre plastischen bildfindungen keine devotionalien der europäischen portraitmalerei sind, sondern hommagen an die schönheit und würde der menschlichen physiognomie.

dieselbe ruhe und zeitlosigkeit der köpfe und büsten strahlen auch die figuren der serie »badende« aus. hier wird nicht für olympia trainiert, sondern für die eigene psyche. die figuren, alles frauen in badeanzug und badekappe, relaxen am beckenrand und drehen routiniert und scheinbar schwerelos ihre runden. im künstlerischen schaffen von annette meincke-nagy kommt diesen »badenden« eine ganz besondere bedeutung zu – sind sie doch die ersten figuren aus pappmaché, die unter den händen der künstlerin entstehen. die ersten »badenden« entstehen 1988, während ihres kunststudiums in budapest im rahmen einer studienaufgabe. ausschlaggebend waren beobachtungen von badegästen in den budapester thermalbädern und die erinnerungen an das schichtweise verleimen von papierschnitzeln aus den eigenen kindertagen. das ergebnis sind dreidimensionale, weitestgehend entindividualisierte beobachtungsstudien, vollplastische figuren-ensembles im kleinen maßstab. indem annette meincke-nagy hier größtenteils auf die farbliche gestaltung verzichtet und die oberfläche der ausgehärteten grauen papierschnipselkörper unbemalt lässt, betont sie deren materialästhetische wirkung und deren flüchtigen, skizzenhaften charakter.

im multimedia-zeitalter der lauten, reizüberflutenden, schnell geschnittenen, immer mehr digitalen oder virtuellen bilder mag es anachronistisch anmuten, wenn annette meincke-nagy – auch aufgrund der langen trocknungsphasen – über wochen hinweg mit dreckigen fingern an einem objekt modelliert. gerade in diesem trotzigen anachronismus, in der leisen, poetischen bildsprache und im wissen um die fragilität der skulpturen liegt der reiz von meincke-nagys schöpfungen. statt kunstwerke auf papier erschafft annette meincke-nagy kunstwerke mit papier.

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